Zu Heideggers Dingbegriff in Sein und Zeit (1927) und in
Der Ursprung des Kunstwerks (1935/36)
Wie ein Denker „die Dinge“ sieht, das hängt davon ab, wie ursprünglich er das Wesen des Seyns begreift, und umgekehrt gilt: Wie ursprünglich er das Wesen des Seyns erblickt, hängt mit davon ab, welche Grunderfahrung der Dinge leitend ist.[1]
Heideggers Denken kreiste zeit seines Lebens um das, was er für das vergessene Thema der Philosophie hielt: das Sein. Was immer er dachte, geriet in den Blickwinkel einer ontologischen Betrachtung – deren Methode und Reichweite ihm gleichwohl mit jeder Untersuchung neu in Frage stand. Nach Heideggers Dingbegriff zu fragen heißt, dem Sein der Dinge nachzufragen.
Heideggers Denken stellen sich die Fragen „Was ist ein Ding?“ und „Welches Sein kommt ihm zu?“ keineswegs selbstverständlich ein. Es klappert nicht schematisch Kategorien, Begriffe oder Entitäten auf ihre Seinsbestimmungen hin ab. Tatsächlich taucht unser Thema eher mit der Frage nach dem Bereich, in dem es kein Sein der Dinge gibt, auf. Nach einem Wort von Walter Schulz sollte die Existenzialanalytik von Sein und Zeit ein Neuanfang sein gegenüber der „traditionellen Ontologie, die den Menschen nach der Seinsart der Dinge bestimmte“.[2]
Zu kurz aber griffe eine Interpretation, die glaubte, nur das menschliche Dasein aus dem Sein der Dinge ausnehmen zu müssen. Auch das nichtmenschliche Seiende wird in Sein und Zeit seiner Bestimmung durch die Tradition streitig gemacht. In dessen Veranschlagung als Ding sieht Heidegger die Schuld des Denkens an der Aufspaltung des In-der-Welt-seins in eine Subjekt-Objekt-Beziehung.
Weniger als zehn Jahre nach Sein und Zeit, in Der Ursprung des Kunstwerks, hat sich Heideggers Dingbegriff verändert. Einhergehend mit einem gewandelten Seinsverständnis, firmiert das Ding nun als eine von der Tradition vergessene und gegen die Macht der Gewohnheit anzudenkende Größe. Heidegger befindet sich auf dem Weg, dem Ding ein „philosophisches Heimatrecht“ (Gadamer) zu verschaffen.[3]
Sein Denken verläuft auf diesem Weg keineswegs geradlinig. Zur Zeit des Kunstwerkaufsatzes formuliert er sogar, daß nicht gradweise Entwicklung, sondern Umstürze im Fragen nach dem Sinn des Seins die Regel seien.[4] Dieses umstürzlerische Potential war mit einer einzigen „Kehre“ keineswegs abgegolten. Auch wenn wir am Dingbegriff den Wandel von Heideggers Denken in jener Zeit nachzuvollziehen versuchen, für die er selbst und zahlreiche seiner Interpreten „die“ Kehre veranschlagen, werden wir sie nicht als Interpretament für die Ergebnisse unserer Untersuchung in Anspruch nehmen.[5] Allerdings wird uns die zu konstatierende Wandlung seines Dingbegriffs zur Formulierung zweier verschiedener Paradigmen seines Seinsverständnisses führen.[6] In Sein und Zeit wird das Ding als Denkfigur kritisiert, die das Über-sich-hinaus-sein von Seiendem erstarren läßt. Im Denkraum von Der Ursprung des Kunstwerks dagegen wird mit dem Ding einer vergessenen Seinsmöglichkeit gedacht: der des Aus-sich-heraus-seins.
Unsere Untersuchung geht in zwei Teilen vor, wobei in Teil II die Reflexion auf Veränderungen gegenüber Sein und Zeit bereits präsent ist. Flankierend zu den zwei zentralen Schriften werden wir andere Texte Heideggers nur aus deren direkter zeitlicher Nachbarschaft heranziehen und auf spätere Selbstdeutungen Heideggers, zumindest als autoritative Zeugnisse, verzichten. Sekundärliteratur ist nicht nach der chronologischen Ordnung ihres Erscheinens, sondern nach ihrem sachlich vorgezeichneten Ort im Gang unserer Untersuchung eingearbeitet.
Heidelberg, Dezember 1998
[1] Heidegger, SCH S. 148. Zur Zitierweise: Heideggerzitate werden mit Sigeln angegeben, die der Literaturliste zu entnehmen sind. Für Stellen aus den beiden für unsere Untersuchung zentralen Texten Sein und Zeit und Der Ursprung des Kunstwerks wird zusätzlich zur Seite hinter einem Schrägstrich (/) der Absatz angegeben, z.B.: SuZ S. 40/2 = Sein und Zeit, Seite 40, Absatz zwei.
[5] Heidegger selbst gibt im Brief über den „Humanismus“ an, einen dritten Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit geschrieben, aber zurückgehalten zu haben, „weil das Denken im zureichenden Sagen dieser Kehre versagte“. Er habe aber in dem Vortrag Vom Wesen der Wahrheit (1930 gehalten, 1943 gedruckt) einen „gewissen Einblick in das Denken der Kehre“ gegeben (WM, S. 325. Zu Heideggers Selbstinterpretation der „Kehre“ s. auch sein Vorwort zu Richardson, Heidegger – Through Phenomenology to Thought). Kockelmans – immerhin im Bemühen, sich auf „die Kehre“ nicht wie auf ein Faktum zu beziehen – sieht ihre Debatte durch zwei grundsätzliche Positionen vertreten: Auf der einen Seite Löwith, der sie als Trennlinie zweier verschiedener philosophischer Positionen betrachtet (vgl. Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit, S. 136ff); und auf der anderen Seite Pugliese, Richardson, Gethmann, M. Müller und W. Schulz, die „die Kehre“ je als Bezugsmitte zweier innerlich aufeinander bezogener Phasen sehen. Er selbst sympathisiert mit Gethmanns Sicht, wonach sie die Wendung von der Frage nach dem Sein im Blickwinkel des Daseins zu der nach Sein überhaupt bedeutet (vgl. Kockelmans, Destructive Retrieve and Hermeneutic Phenonoenology, S. 135f). Wir hingegen glauben zum einen, daß es auf Heideggers pluralen Wegen mehr als einen Umkehrpunkt gegeben hat; zum anderen, daß die in den 30er Jahren vollzogene Wendung zum „Sein überhaupt“ nichts sagt, wenn sie nicht die zugleich konstatierbare Aufwertung des Seienden mitausdrückt.