Vortrag an der TU Dresden im Rahmen der Ringvorlesung „Vom Gemachten und Geglaubten – Die ökologische Krise im Fokus kritischer Reflexion“
6. Mai 2010
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kommilitonen, liebe Mitmenschen und Müllmacher!
Der Anfang
Nachdem der Mensch sich aufgerichtet und somit beide Hände frei hatte, begann er Dinge wegzuwerfen: Bananenschalen, abgenagte Knochen, abgenutzte Faustkeile, zerbrochene Pfeilspitzen. Doch der Müll folgte dem Menschen wie ein treuer Gefährte. Wo immer er kampierte und Feuer machte, ließ der Mensch ihn wieder zurück. Aber nie wurde er ihn auf Dauer los.
Manches verrottete, anderes blieb Jahre und Jahrtausende erhalten, so daß die Archäologie, die durch die Erde hindurch zurück in die Vergangenheit blickt, die ersten Spuren des Menschen in seinem
Müll entdeckte.
Noch bevor er Felswände bemalte, Gräber aushob oder sich gar zum Bau von aufwendigen Palästen anhalten ließ, machte der Mensch Müll. Der Müll ist so alt wie der Mensch, aber er überdauert ihn.
Erst überdauern die Dinge ihre Verwendbarkeit, dann ihren Verwender.
Der Müll ist ein Zeuge der vergangenen Existenz von Menschen.
Ansammlung des Mülls und Technik
Schon früh war Müll zweierlei: das Unbrauchbare und das Unreine. Letzteres bedeutet, daß der Mensch sich nicht nur aus Platzgründen von seinem Müll trennen mußte. Lange Zeit waren es vor allem
Religionen, die Gebote zur Reinhaltung und Reinigung erließen. Sie konnten nicht ein für alle Male erfüllt werden, denn Abfall ist das, was permanent anfällt. So auch die Reinigung von ihm.
Rhythmisch wie das Ein- und Ausatmen muß sie sich wiederholen. Der Mensch lebt im Rhythmus vom Müll machen und Müll entsorgen.
Während sich Hygienemaßnahmen gegen das Unreine allmählich von der Religion lösten, wurde (und wird) die Entsorgungs-Technik immer wichtiger. Als Menschen sich in Siedlungen und schließlich
Städten ansammelten, zeigte auch der Müll – wie ein Double des Menschen – seinen Hang zur Ansammlung, der sich noch heute an jeder wilden Müllkippe beobachten läßt. Der Müll forderte seine
Infrastruktur, die mit den Städten wuchs: Müllhaufen wurden ausgelagert, sortiert, kompostiert, deponiert, verbrannt, dann wurden Straßen gepflastert und regelmäßig gereinigt, Kloaken wurden
angelegt... Wie ein länger und länger werdender Schatten begleitete der Müll den Menschen.
Das katastrophische Auftauchen des Mülls
Die Geschichte des Mülls verläuft jedoch nicht linear. Müll will vergessen werden. Er ist das Nicht-Thema schlechthin. Das erfordert immer wieder Bewußtseinssprünge, die durch Skandale erzwungen
werden. Eine Konstante in der Geschichte des Mülls ist sein katastrophisches Auftauchen.
Im Jahre 1185 ließ der französische König Philipp II. die wichtigsten Straßen von Paris pflastern, nachdem er durch aufsteigendes Faulgas einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte. Es war damals
wieder üblich geworden, den Hausmüll einfach auf die Straße zu kippen. An anderen Orten und zu anderen Zeiten waren es Pest und Cholera, die den Stadtbewohnern die Notwendigkeit einer
organisierten Müllentsorgung erneut vor Augen führten.
Im 20. Jahrhundert wurde der Fortschrittsoptimismus der Industriegesellschaft zum ersten Mal in den 60er Jahren mit dem Hinweis auf die Begrenztheit ihrer Ressourcen gedemütigt. Noch bevor man
daran dachte, daß eines Tages das Erdöl ausgehen könnte, war der Raum für den Abfall knapp geworden. Deponien waren überfüllt, überall entstanden wilde Müllkippen – und mit ihnen Gefahr für Leib
und Leben der Bevölkerung. Die Presse erkannte einen „Müllnotstand“. Das Hausmüll-Volumen bspw. war in Westdeutschland von 1950-1961 um 100 % angestiegen. Als neuer Gradmesser des Wohlstandes
eroberten die Verpackungen den Markt. Hatte man 1951 noch für 1,3 Mrd. DM Verpackungen produziert, so 1970 für 13 Mrd. DM. Massenproduktion und Massenkonsum unter dem Vorzeichen unbedingten
Wachstums hinterließen ihre Spuren.
Mit dem rein quantitativen Anwachsen des Müllbergs ging aber noch eine andere Gefahr einher: Die Industriegesellschaft hatte die Stoffzusammensetzung der Dinge verändert. Noch vor den großen
Unfällen von Seveso (1976) und Tschernobyl (1986), noch bevor die Toxizität, Persistenz und Ubiquität bestimmter chemischer Verbindungen (wie der Dioxine, der PCBs, des DDT) oder atomare
Halbwertszeiten in aller Munde waren, drangen durch lokale Skandale Botschaften einer neuen Gefahr ins gesellschaftliche Bewußtsein. Konnte in vorindustrieller Zeit der ausgelagerte Müll als
verschwindendes Phänomen behandelt werden, so war er nun zur problematischen Materie geworden. Der Müll erschien plötzlich als unbezähmbares Ungeheuer, das den Lebensraum des Menschen bedrohte,
als giftige Hydra, der zwei Häupter nachwachsen, wenn man ihr eines abschlägt.
Strategien gegen den Müll
Der Mensch nahm den Kampf auf. Gegen den Müll, den er zunächst als Feind behandelte, besann er sich auf Strategien – die zwar nicht wirklich neu waren, aber neu entdeckt, erneuert und neu
angewendet wurden. In den 70er Jahren wurden Gesetze erlassen, die die Beseitigung des Mülls regelten. Dann wurde die Wirtschaft eingeschaltet, die den Müll verwerten sollte, durchaus in der
Doppelbedeutung des Wortes, die 1. meint: nutzbar machen, und 2. ökonomisch gewinnbringend behandeln.
1972 verlangte das Abfallbeseitigungsgesetz die „unschädliche Beseitigung von Abfällen“.
1975 bezog das Abfallwirtschaftsprogramm mit der Idee der Verwertung die Wirtschaft ein; bereits damals war von Vermeiden die Rede, Vorrang vor Beseitigen aber hatte v.a. das Verwerten.
1986 schrieb das Gesetz über die Vermeidung und Entsorgung von Abfällen die Zielhierarchie Vermeiden - Verwerten – Beseitigen gesetzlich fest.
1993 regelte die EU-Abfallverbringungsverordnung Müll-Bewegungen, v.a. auch seinen grenzüberschreitenden Verkehr.
1994 verriet das Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und zur Sicherung der umweltverträglichen Beseitigung von Abfällen schon durch die Wortwahl, daß sich gesellschaftlich einiges getan
hat, daß man allseits ökologisch vernünftig geworden ist und daß man mit einer wachen Öffentlichkeit rechnen muß. Der Abfallbegriff ist „vorsorgeorientiert“, es gilt nach wie vor die
vermeidungsorientierte Pflichtenhierarchie. Es ist von einem Verursacherprinzip die Rede, zugleich gibt es erweiterte Privatisierungsmöglichkeiten. Und es wird die Gleichrangigkeit von
stofflicher und energetischer Verwertung festgestellt.
Damit war der juristische Begriffsrahmen erst einmal im Wesentlichen abgesteckt. Das juristische Regelwerk wächst selbstverständlich kontinuierlich mit dem Müll.
Vermeiden
Parallel zur Verwertung war also die Idee der Müll-Vermeidung aufgetaucht – die allerdings auf den zweiten Blick enthüllte, daß sie genauso groß wie unrealistisch ist. Diese Idee, die heute als
Textbaustein unverzichtbar geworden ist, liefe bei ihrer Realisierung auf ein Vermeiden der Industriegesellschaft selbst hinaus. Diese Einsicht führte zu der Erkenntnis, daß der Müll, der eben
noch als Feind des Menschen identifiziert worden war, plötzlich als sein Alter Ego erschien. Bei der Vorstellung eines Lebens ohne Müll entdeckte der Mensch, daß jener zu seiner Würde gehört.
Bedeutet nicht: mehr Müll = mehr Mensch? Die australischen Ureinwohner hatten außer einfachen Grabstöcken und Bumerangs kaum Dinge, entsprechend kaum Müll. Sie waren der Meinung, daß die Dinge
irgendwann Besitz von den Menschen ergreifen würden; die Industriegesellschaft ist es nicht.
Vom sprichwörtlichen kleinen Mann auf der Straße über den Gesetzgeber bis zu den Managern der großen Wirtschaftsunternehmen ist jeder zu unterschreiben bereit, daß der beste Umgang mit Müll ist, ihn im Vorfeld zu vermeiden. Aber keiner wird so einfach auf die Produktion des Mülls verzichten wollen, den wir täglich machen. Es kann nur um eine Vermeidung „im Rahmen des Möglichen und Machbaren“ gehen. Dieser Rahmen läßt z. Zt. in Deutschland jährlich rund 385 Millionen Tonnen Müll zu.
Recycling
Die Einsicht, daß man den Müll nicht vermeiden kann, weil er zur Conditio Humana gehört, kann als der große Augenöffner einer Epoche betrachtet werden, die durch ökologische Erkenntnisse in tiefe
Selbstzweifel gestürzt worden war. Auf einmal taten sich versöhnliche Perspektiven auf. War der Kampf mit dem Müll nicht ein Bruderkampf mit Hoffnung auf Befriedung? Es ist doch Eine Welt, in der
wir leben, Eine Erde, der wir alle – Mensch und Dinge – entstammen. Dieser Gedanke stand Pate bei der Lieblingsidee der Epoche, dem Recycling. Der Traum: daß sich alles wiederverwerten läßt; daß
mit Hilfe der Technik es an uns ist, die Materie als Müll oder als Rohstoff zu definieren; daß sich ein Kreislauf von Ver- und Entsorgung schließen läßt. Glas und Papier waren die ersten
Materialien, die diese Hoffnung nährten.
Aber: Zum einen blieben zu viele Produkte durch ihre Stoffzusammensetzung von der Möglichkeit des Recycling ausgeschlossen. Zum andern sind mit dem Recycling Kosten und ein erneutes Müllaufkommen
verbunden, bei u. U. leicht degenerierten Produkten. Man redet dann von „Downcycling“.
Diesem entropischen Fluch entgehen sollen die Dinge durch eine Variante der großen Kreislauf-Idee: Danach muß ein vernutztes Produkt nicht in dasselbe, wieder benutzbare Produkt verwandelt
werden. Es reicht, wenn es ohne Schaden für des Menschen Umwelt in den großen Kreislauf der Natur zurückkehrt. So entstanden schließlich unter dem Motto „Von der Wiege zur Wiege“ (bekannter
vielleicht auf engl.: Cradle to cradle, Michael Braungart, William McDonough, 2002) eßbare Würstchenteller und kompostierbare Sitzbezüge für Flugzeugsessel. Der Einzelerfolg schien dieser
großartigen Idee Recht zu geben. Aber bei allem Optimismus, den diese Beispiele nähren können: Das biologisch abbaubare Cockpit oder Fahrgestell ist noch nicht in Sicht.
Entsorgung
So sammelt sich der Müll weiter an. Am Industriestandort Deutschland waren das im Jahr 2007, wie bereits erwähnt, ca. 385 Millionen Tonnen. (Die Menge der essbaren Würstchenteller oder
kompostierbaren Sitzbezüge ging dabei gegen Null.) Ließen sich diese Tonnen in große Fässer verpacken, reichten sie mehrfach um den Äquator. Dafür aber ist der Äquator nicht gedacht. Die Menge
muß reduziert werden, und für den Rest müssen andere Orte gefunden werden. Müllverbrennungsanlagen (MVA) und Deponien sollen in der strategischen Aufstellung gegen den Müll wie zwei Backen einer
Zange zusammenwirken.
MVAs
Müll-Verbrennung gab es schon in der Steinzeit. Bereits damals setzte man periodisch Müllhalden in Brand, wahrscheinlich weniger, um ihr Volumen zu reduzieren, als mehr, um der Geruchsbelästigung
und der Ungezieferplage Herr zu werden.
Die erste moderne MVA wurde 1870 in England (Paddington) in Betrieb genommen. Damals produzierte man bereits seit über 100 Jahren industriell Müll. Die Dampfmaschine war bereits 1690 durch Denis
Papin erfunden worden und hatte 1698 durch Thomas Savery und 1712 durch Thomas Newcomen Weiterentwicklungen erfahren. 1769 meldete James Watt sein Patent an. An die Folgen der industriellen
Produktion aber dachte man erst, als sie nicht mehr zu übersehen waren.
Die erste kontinentale MVA wurde 1894 in Hamburg errichtet. Wieder einmal hatte eine Katastrophe nachhelfen müssen. Nach der Cholera-Epidemie von 1892 weigerten sich die Bauern des Hamburger
Umlandes hartnäckig, weiterhin den städtischen Müll anzunehmen. Die MVA war eine Art Notlösung – gegen die übrigens Utilitaristen vehement Einspruch erhoben, weil sie den Abfall weiterhin für die
Landwirtschaft nutzen wollten. Bereits damals gab es ähnliche Interessenskonflikte und Argumentationen wie heute.
Auf dem Kontinent ging es mit den MVAs nur schleppend voran. Während des Ersten Weltkriegs, als zum einen Fachpersonal fehlte und zum anderen aufgrund der intensiveren Resteverwertung kaum noch
brennbares Material im Abfall war, ging die Müllverbrennung gleich wieder drastisch zurück. Noch 1951 gab es in Westdeutschland nur zwei MVAs. Richtig in Gang kam die Müllverbrennung erst mit der
Konsumgesellschaft. 1971 waren es in Westdeutschland schon 30 MVAs, im Jahr 1981 dann 42. 2008 hatte man auf 71 erhöht.
Wie kam es zu diesem Boom? Durch heutige MVAs läßt sich
1. (und das nimmt den Rang eines eminenten Arguments ein) die beim Verbrennungsvorgang freigesetzte Energie in Strom oder Heizwärme umsetzen. Man redet daher vom „energetischen Recycling“.
Betrachtet man Aufwand, Kosten und Folgen der dabei notwendigen Reinigung, müßte man allerdings auch hier von einem „energetischen Downcycling“ sprechen. Ein weiterer Einwand der Kritiker lautet
(analog dem der Utilitaristen gegen Ende des 19. Jahrhunderts), daß, um den Brennwert des Mülls zu garantieren, vieles noch Verwertbare unverwertet bleibt bzw. daß sich beispielsweise bei
Kunststoffen gar nicht um eine recyclinggerechtere Herstellung bemüht wird.
2. (und das ist der bei weitem wichtigere Grund für den Verbrennungs-Boom) wird durch die Verbrennung eine Volumenreduktion des Mülls auf 30 %, manchmal sogar auf bis zu 10 % erreicht.
Moderne MVAs sind wahre Wunderwerke der Technik – wie die Produktionsanlagen, deren Endprodukte sie verbrennen, auch. Mittlerweile zwingen Vorschriften, denen man anfangs der 70er, teilweise noch
in den 80er Jahren, einfach mit höheren Schornsteinen genügen konnte, zur Anwendung der jeweils modernsten Verfahrenstechniken.
Wir sehen: „Damals“ galten intolerable Grenzwerte, heute ist das anders. Nur: Damals waren das auch die modernsten Standards. Man muß kein Prophet sein, um für das Jahr 2030 oder 2040 andere
Grenzwerte und v.a. auch Grenzwerte für noch ganz andere Substanzen vorauszusagen. Das, was heute hochmodern und „ohne jede Gefahr für die Bevölkerung“ ist, wird der Zukunft als Beleg für ihren
Fortschritt dienen und dann rückblickend der Wildwestphase der Müllentsorgung zugerechnet werden.
Die Schadstoffbilanz des Mülls enthüllt bei näherer Betrachtung ein ihm eigenes Verlagerungsgesetz. Während das Fortschrittsdenken eine unaufhaltsame Perfektionierung nicht nur der industriellen
Produktions- sondern auch der Müllentsorgungstechniken sieht, verlagert der Müll hartnäckig die eben noch technisch scheinbar gelösten Probleme. Das hat damit zu tun, daß MVAs selbst industrielle
Produktionsanlagen sind – in denen das Kontextverständnis dem Produktionswissen hinterherhinkt.
Wie alle industrielle Produktion arbeitet eine MVA mit „offenem Ausgang“. (Damit ist nicht nur, aber auch der Schornstein der Rauchgasreinigungsanlage gemeint.) Eine MVA ist ein chemischer
Reaktor, in dem Stoffe nicht einfach vernichtet, sondern umgesetzt werden. Von den jährlich weltweit über 400.000 neu hergestellten, z.T. stark toxischen Stoffen gehen zwar bei weitem nicht alle
in die kommerzielle Güterproduktion ein, aber der Anteil in der Natur nicht vorkommender Stoffe am Müll ist kontinuierlich steigend. Bei der Verbrennung werden Substanzen freigesetzt und es
entstehen neue Verbindungen. Erzeugt die industrielle Warenproduktion durch Abluft, Abwasser und Abfall immer auch direkt Müll, so ist umgekehrt die Müllbehandlung immer auch eine Herstellung von
Stoffen. Filter- bzw. Rauchgasreinigungsanlagen fangen die einen ab – und lassen andere durch. Die Fronten lassen sich verschieben, nicht aber aufheben.
Kühlt sich die Aufregung über den Dauerbrenner Dioxin ab, so erscheinen auf dem Gefahrenindex der MVAs gleich wieder andere Stoffe, sei es das altbekannte Quecksilber; oder seien es andere,
bisher in ihrer Gefährlichkeit noch nicht erkannte Stoffe. Hausmüll ist ein in seiner genauen Zusammensetzung immer unbekanntes Gemisch Hunderttausender chemischer Stoffe. Neue
Untersuchungsmethoden ergeben neue Befunde. Grenzwerte z.B. gibt es z. Zt. für 40 bekannte luftgetragene Schadstoffe. Die Zahl der tatsächlichen Schadstoffe aber ist prinzipiell unbekannt.
Aufgrund der Variabilität der Müllzusammensetzung und der daraus resultierenden Variabilität der Rauchgaszusammensetzung ist nur die Erfassung bestimmter Fraktionen möglich. Eine MVA ist immer
eine Schnittstelle zwischen Labor und Freiland. Stoffe, die unter kontrollierten Bedingungen entstanden, werden in einen unkontrollierbaren Freilandversuch mit offenem Ausgang überführt.
Die Metapher der Hoffnung, daß der Müll sich durch seine Verbrennung „in Luft auflöst“, verrät etwas von seinem bzw. unser aller Schicksal: Die Elemente werden vom Müll durchdrungen. Das
Transformationselement Feuer setzt den Müll in das Transportelement Luft um. Seine vermeintliche Beseitigung verunreinigt die Elemente. Elementar geworden, wird er zum Allesdurchdringer.
Was sich nicht „in Luft auflöst“ – von Rauchgasreinigungsanlagen abgefangen und zu Rest- und Festmüll kondensiert –, wird wieder zu Erde. Die verbleibenden, zu Staub, Schlacke und Filterasche
komprimierten zehn bis dreißig Prozent müssen als z.T. hochgiftiger Sondermüll deponiert werden. 2002 wurden in den deutschen Müllverbrennungsanlagen ca. 3,4 Millionen Tonnen Schlacke produziert,
wovon nach der Schlackenaufbereitung noch 2,9 Millionen Tonnen übrig blieben. Das Problem, das sich in Luft hatte auflösen sollen, ist auf bzw. in die Sondermüll-Deponie verlagert, womit sich
wieder das dem Müll eigene Verlagerungsgesetz geltend macht.
Deponien
Auch die Deponierung von Müll gab es bereits in der Steinzeit. Das waren mehr oder weniger wilde Müllkippen, wie wir heute sagen würden, noch keine geordneten Deponien. Das änderte sich in
Deutschland erst in den 1960er (!) Jahren. Davor kippte man den Müll einfach außerhalb der Städte in Ton- oder Kiesgruben, alte Steinbrüche, Sümpfe, Moore oder was einem sonst als passender Ort
erschien.
Mittlerweile gibt es, gestaffelt nach Gefährlichkeit des Mülls, Deponieklassen von 0 bis IV. Aber in einem zersiedelten Land mit schwindender Akzeptanz der Bevölkerung wird der Raum für Deponien
enger und enger. Mehr noch: Die Grundidee der Deponie scheint der Realität des Mülls nicht mehr stand zu halten. Eigentlich war die Deponie als Ort für dessen Wegsein gedacht. Daß er dort
zumindest teilweise überdauerte, war über Tausende von Jahren nicht tragisch. Aber auf einmal ist die Deponie auch als Ort des Überdauerns zu einer realitätsfernen Utopie geworden. Genauso wie
die MVA ist die Deponie immer auch Ausgangspunkt für die Elementarwerdung des Mülls. Nichts verschwindet durch die Lagerung, nichts bleibt für immer ausgeschieden. Die im Müll gebundenen Stoffe
lassen sich weder in Lagern vernichten noch dauerhaft speichern. Sie entweichen aus der Erde als Gase in die Luft, und sie sickern in Richtung Grundwasser ab.
Daß dies nicht nur in der Sicht ökologischer Schwarzmaler so ist, belegen die immer strenger werdenden Deponierichtlinien. Analog zur Filteranlage einer MVA soll die Ummantelung das Eindringen
des Mülls in die Elemente verhindern. Technik und Wissenschaft arbeiten an Basis- und Oberflächenabdichtungssystemen, an Entwässerungs- und Gasdränschichten sowie an
Sickerwasser-Reinigungsanlagen. Man erkundet geologische Barrieren und produziert Kunststoffdichtungsbahnen, z.T. aus PE-Folie, die dann selbst irgendwann zu Sondermüll wird. Da jeder Mantel auch
nur ein Material ist, an dem die Zeit arbeitet und das Problem in die Zukunft verlagern könnte, gibt es Mess-, Überwachungs- und Nachsorgeprogramme. Was schließlich auf seinem Weg in Richtung
Grundwasser oder Luft abgefangen wurde, muß nachbehandelt und dann, zur Restform verdichtet, wieder deponiert werden.
Es sieht so aus, als diene die technologische Aufrüstung einem verzweifelten Abwehrkampf, und als befände sich die Idee der Deponie auf dem Rückzug. In Deutschland ist die Deponierung von
„stinknormalem“, sprich: unbehandeltem Hausmüll seit 2005 verboten, d.h. es dürfen nur noch vorbehandelte Abfälle, die 1. in ihrem Volumen drastisch reduziert sind und bei denen 2. nahezu keine
organischen Bestandteile mehr vorhanden sind, auf die Deponie. Im Bundesumweltministerium diskutiert man ein generelles Verbot oberirdischer Deponierung von Siedlungsabfällen ab 2020.
Am Ende steht ein Traum: der vom Endlager. Der Rest der Reste landet in der unterirdischen Hochsicherheitsdeponie, wo er definitiv aus der Welt des Menschen verbannt und von allem Einfluß auf das
irdische Leben abgeschottet werden soll. De facto handelt es sich, da die Erde keine abgeschotteten Räume kennt, immer nur um ein durch Sprachmüll aufgerüstetes Zwischenlager. Im Januar 2010
erfuhr die Welt, daß mehr als 120.000 Behälter radioaktiven Abfalls aus dem einsturzgefährdetem Endlager Asse (Pardon: „Versuchsendlager“) geholt werden müssen. Die ersten für die Ewigkeit,
zumindest aber eine Million Jahre, eingelagerten Behälter waren nicht einmal 45 Jahre zuvor in die Schachtanlage gebracht worden.
Ein Problem beim Auslagern wird übrigens der bereits schadhafte Zustand einiger Behälter darstellen. Die geschätzten Kosten von 2,5 (mittlerweile: 3,7) Milliarden Euro für die Aus- und Umlagerung
könnten sich schnell erhöhen, denn das Verlagerungsgesetz kennt keine Limitierung der Tributzahlungen für sträfliche Naivität. Es zahlt übrigens nicht die Industrie, die daran verdient hat,
sondern der Bund, sprich: der Steuerzahler. In gewisser Weise wird also auch hier das Verursacherprinzip zugrunde gelegt: Denn hätten die Steuerzahler die Entstehung des Atommülls nicht
zugelassen, hätte es auch nicht zu Entsorgungsschwierigkeiten führen können.
Der anekdotenträchtige Atommüll soll uns aber nicht dazu dienen, den „konventionellen“ Sondermüll zu vergessen: d.h. arsen-, cyanid- oder quecksilberhaltige Abfälle, PCB-haltige Transformatoren
und Kondensatoren, oder eben dioxinhaltige Filterstäube aus der Rauchgasreinigung von Haus- und Sondermüllverbrennung; d.h. Substanzen, die für immer und gänzlich aus der Welt des Menschen
ausgeschlossen werden müssten. Die jährliche Kapazität der dafür in Deutschland vorgesehenen Lagerstätten beträgt mehrere hunderttausend Tonnen. Die bisher eingelagerte Menge an Giftmüll hat 2,5
Mio. Tonnen bereits überschritten. – Das betrifft die Kapazitäten, nicht die prinzipielle Frage, ob eine Abschottung vom Biozyklus überhaupt möglich ist.
Der Giftmüll und sein Verschwinden
Skandalöse Enthüllungen hatten zum Diskurs über und zur strategischen Aufstellung gegen den Müll geführt. Diese Enthüllungen führen aber zugleich immer wieder zu ihrem Gegenteil. Der Skandal
durchschießt die Reizschutzschichten des alltäglichen Bewußtseins, durchlöchert aber auch das System der Nachhaltigkeit des Gedächtnisses. So verschwinden der Müll und die Erkenntnisse über ihn
immer wieder aus dem Bewußtsein.
Es waren daher erneut Skandale, die enthüllten, daß der Müll, der keinen Platz mehr fand, Anderswo hin sollte. In den 80er Jahren gerieten Giftmüllschiffe, die auf den Weltmeeren zwischen
Legalität, Halb- und Illegalität navigierten, in die Schlagzeilen. Beladen mit toxischen Abfällen aus Metropolen, versuchten sie vergeblich, zunächst in fernen Ländern der sogenannten Dritten
Welt, dann in Europa, anzulanden. Nicht Piraten bedrohten fremde Fracht, sondern Transportschiffe alles am Wegrand Liegende. Zahlreiche Länder, darunter Frankreich, mobilisierten Kriegsschiffe,
um die Giftmüllschiffe aus ihren Gewässern zu vertreiben. In Italien kam es an Land zu Revolten, als sie dort ihre Ladung löschen sollten. Das Anderswo enthüllte sich als Nirgendwo für den Müll.
Der von seinem Vaterland verleugnete, heimatlose Müll durfte sich keine Hoffnung auf ein Asylrecht anderswo machen.
Nach und nach verschwanden die Fässer auf den Meeren, die Schiffe aus den Schlagzeilen und die für den Transport Verantwortlichen aus dem Bewußtsein der Zeitungsleser. Der Müll aber hatte
eindrucksvoll demonstriert, daß seine Entgrenzungstendenz (der Gegenpol zu seiner Ansammlungstendenz) nicht nur mit Hilfe der Elemente den Raum um Deponien und MVAs durchdringt, sondern auch in
fremde Länder strebt. Müll erkennt keine Grenzen an. Nachdrücklich hatte er sich als Global Player ins Spiel gebracht. Anderswo ist Nirgendwo ist Überall.
Noch im Giftmüllzeitalter baut man auf die Zauberkraft des Meeres, um Dinge verschwinden zu lassen – obwohl wir wissen, daß alles auch wieder auftaucht: in Form von Algenblüten, Robbensterben,
und über die Nahrungsmittelkette als Erkrankungen und schleichende Erbgutveränderungen an Land. Hundert- und Aberhunderttausende Tonnen von Giftmüllfässern, rostende Schiffswracks mit
gefährlichen Materialien, darunter atomar betriebene oder atomar bewaffnete U-Boote etc. pp. warten auf dem Meeresgrund geduldig auf die Freisetzung ihrer Stoffe. Verschwinden läßt das Meer all
das nur aus unserem Bewußtsein – bis zu seinem katastrophischen Wiederauftauchen.
Aufgetaucht ist unterdessen im Pazifik ein neuer Kontinent. Durch Hochdruck und Strömungen bedingt, gibt es auf den Meeren riesige Strudel, von denen einer im Pazifik eine Plastikinsel aus Müll
in der Größe von Mitteleuropa hat entstehen lassen. Im Jahr 2008 soll diese Insel aus ca. 100 Millionen Tonnen Kunststoffmüll bestanden haben.
Mittlerweile schwimmt im Meer sechsmal mehr Plastik als Plankton – was zur Todesursache für Wale, Schildkröten und Seevögel wie Albatrosse führt. Hinzu kommt, daß in Wasser nicht lösliches DDT
und PCB sich gerne an Plastik setzt, was dort zu einer millionenfach höheren Konzentration der Dauergifte im Vergleich zum restlichen Wasser führt.
Nun, irgendwo müssen die 125 Millionen Tonnen Kunststoff, die jedes Jahr weltweit produziert werden, hin. Nicht alle landen beim Recycling oder in der MVA. Der Rest verschwindet irgendwo, im
Nirgendwo, das überall ist.
Altstandorte
Überall: das bedeutet auch daheim; und zwar hier und jetzt, selbst dann, wenn schon alles vorbei zu sein schien. Nicht nur vernutzte Produkte oder das, was bei ihrer Produktion abfällt, wird zu
Müll. Auch die Orte, an denen der Müll deponiert wurde, gelten nun als vermüllt. Bis zum Jahr 2005 (in Ostdeutschland 2009) mussten alle alten Deponien stillgelegt werden. Saniert sind sie damit
noch nicht. Aber mehr noch: Mitunter enthüllen sich auch die Orte, an denen produziert wurde, im Nachhinein als Müll. Das wiederum gilt nicht nur für abgeschaltete, aber noch ein paar
Hunderttausend Jahre lang radioaktiv strahlende AKWs, sondern auch für altöl- oder dioxinverseuchte Industriebrachen. Als Fünfte Kolonne hält sich der Müll in der Erde versteckt.
Altstandorte machen ihre eigene Rechnung mit der Zeit auf. Hatte die Archäologie Schichten in der Erde entdeckt, die uns von unserer Vergangenheit erzählen, so kündet das als Altlast
kontaminierte Erdreich von dem, was jetzt und in Zukunft zu tun ist: Altstandortsanierung. Das führt auf die Deponie, wenn die Erde als Abraum abtransportiert oder gleich vor Ort versiegelt wird.
Oder es werden mittels hydraulischer, thermischer oder Bodenluftabsaug-Verfahren Elementarkräfte mobilisiert, um die Erde zu reinigen. Gegen bestimmte Stoffe lassen sich auch Mikroorganismen zur
biologischen Behandlung einsetzen. In Kläranlagen oder bei der Kompostierung haben Mikroorganismen schon immer diese Urform der Entsorgung geleistet. Heute wird sie durch Biotechnik organisiert.
Ihr scheint die Zukunft zu gehören; wohl aber nur, weil die Last der Vergangenheit immer schwerer wird. Auch die Sanierungstechniken werden immer ausgefeilter. Was sie leisten können, ist eine
Schadensbegrenzung – die Milliarden kostet und doch unternommen werden muß, wenn man der Entgrenzungstendenz des Mülls entgegen wirken und die Ausbreitung der Altstandorte über die Wasser
führenden Schichten in der Erde verhindern will.
Was droht, ist, daß der Müll über Verbrennungsanlagen, Deponien und Altstandorte immer weiter in die Elemente eindringt und zu dem führt, was bereits – wenn auch nur in zarten Anklängen – der
Fall ist: der allgemeinen Umweltverschmutzung. Auch das wäre eine Beseitigung des Mülls: daß sich sein Begriff in einer vollständig vermüllten Welt auflöste. Der Ausblick darauf wird eher
woanders als daheim deutlich, z.B. in China, wo der Hausmüll von fast einer Milliarde Menschen kaum getrennt oder behandelt wird; wo ca. 500 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem
Trinkwasser haben; wo auf einem Drittel des Territoriums die Wüsten wachsen; wo 90 % der Flüsse, die Städte durchqueren, verdreckt sind; und wo in fast jeder zehnten Familie Mißbildungen bei
Neugeborenen vorkommen. Wenn man das, was sich mit Geld wieder gut machen läßt, berechnet, kommt man auf Zahlen, die das ganze Wirtschaftswachstum rückwirkend wieder schlucken. Nach Berechnungen
der Weltbank und der Chinesischen Akademie der Wissenschaften belief sich der jährliche Umweltschaden in China (bis 2005) auf 8 bis 13 Prozent des Nationaleinkommens.
Der Müll, der schon früh der Schatten des Menschen war, droht zur Schattengestalt seiner heiligen Kuh, des Bruttonationaleinkommens (BSP), zu werden. Die Produktionsgesellschaft könnte sich in
eine Entsorgungsgesellschaft verwandeln. Die Fortschrittsepoche, die alles auf die Zukunft gesetzt hatte, geriete unter eine neue Herrschaft der Vergangenheit. Der Müll enthüllt den Reichtum der
Industriegesellschaften rückwirkend als von der Zukunft „geliehen“. Eigentlich ist es, da die Zukunft nicht gefragt wurde, ein Raub – der paradoxerweise in einer „Gabe“ besteht: dem der Zukunft
überlassenen Müll. Der die Welt-Substanz durchdringende Müll ist mehr als nur Materie. Er offenbart sich als Welt-Verhältnis, in dem sich ein erschreckendes Selbstverhältnis verbirgt; genauer:
ein Generationenverhältnis. Die Entsorgungsgesellschaft eignet sich ihren Reichtum von ihrer Nachwelt an.
Alle Umwelt-Probleme sind Probleme, die auch der Mitwelt bereitet werden, vor allem aber: der Nachwelt.
Die Nachwelt
Niemand weiß, wo überall wieviel Müll lagert. Das gilt für den illegal entsorgten Müll, aber nicht nur für ihn. Auch legal entsorgter, gefährlicher Sondermüll birgt ein Informationsproblem.
Warnungen vor ihm müssen an die Nachwelt weitergegeben werden. Diese beginnt bei den Nachbarkindern, die in den Hügel hinter der alten Mehrzweckhalle ihre Höhlen bauen und dabei auf die Überreste
einer begrünten Hausmülldeponie stoßen. Überdauert hat der Müll, verschwunden ist das Wissen von ihm. Wer aber ist der Ansprechpartner in Tausenden von Jahren, wenn Atommüllbehälter oder gut
versiegelte, hochgiftige Verbrennungsrückstände von Hausmüll immer noch nicht geöffnet werden dürfen? Soll man Cyborgs, Roboter, Computersysteme oder muß man degenerierte Mutanten ansprechen? Und
wie soll man es tun? Es gab noch keine menschliche Kultur, kein Zeichensystem, das Informationen über Zigtausende von Jahren – Zeiträume, die industriell gefertigter Müll dauert – hätte
überliefern können. Zumindest nicht an eine andere Kultur. Dort, wo uralte Tabus vor dem Uran warnten – im Land der australischen Aboriginies oder der amerikanischen Indianer – war das erste, was
der moderne Mensch tat: graben und fördern.
Nicht nur dem Blick zurück in die Vergangenheit, sondern auch dem voraus in die Zukunft zeigt sich: Der Müll überdauert uns. Es hätte uns schon die erste archäologische Erkenntnis lehren können,
daß der Müll einst an die Stelle des Menschen treten könnte. Denkbar ist allerdings auch umgekehrt, daß der Mensch nur der evolutionäre Platzhalter des Mülls war, der uns nur vorübergehend für
sein Eindringen in die Elemente brauchte. Wer hat am Ende wen gemacht? Das Nachsinnen über die Nachwelt macht den Müll als unseren Avatar in einer vom Geist oder auch nur unserer menschlichen
Hülle verlassenen Welt denkbar. Genau so gut aber könnten wir der seine in „unserer“ geschäftigen Welt gewesen sein.
Oder sind wir nur zu klein, die wahre Größe unseres Mülls zu erkennen? Vielleicht wird es dereinst eine zweite Archäologie geben, die die Spuren unserer Kultur entdecken und in unserem Müll das
unschätzbare Zeugnis eines genialen, nie wieder erreichten Naturverständnisses erkennen wird.
Oder aber der Müll wird am Ende doch den Menschen geschluckt haben; nicht aber, um ihn zu degradieren, sondern um aus ihm die eigentliche Krone der Schöpfung modelliert zu haben; um aus ihm eine
Nachwelt von genialen Müllverwertern geboren zu haben, für die der heute noch stinkende Untergrund unserer Welt zum wertvollen Rohstoff geworden sein wird.
Die triumphale Rückkehr des Mülls
Lebt diese geniale Nachwelt gar schon mitten unter uns? Der Fackelträger der Hoffnung, daß das Schreckgespenst Müll zum Verschwinden gebracht werden kann, ist – die Wirtschaft, der große Um- und
Aufwerter. Sie hat erkannt, daß auch die sog. „defensiven Ausgaben“, die bei der Müll- und Altstandortentsorgung anfallen, ins Bruttonationaleinkommen eingehen. Müll ist ein Wirtschaftsgut, wie
andere Dinge auch. Ihr zufolge erschien er nur als unpassendes Material, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Die Wirtschaft, der – wie einst dem sagenhaften König Midas – alles, was
sie anfasst, zu Gold wird, verwandelt ihn in ein passendes, mehr noch: in ein einträgliches Gut. Der Müll gehört nicht nur mit dazu, er ist fürs Wirtschaftswachstum mittlerweile
unentbehrlich.
War der Mensch, der den Müll loswerden wollte, nur nicht im Reinen mit sich selbst? Zur Zeit des Römischen Kaisers Vespasian (9 – 69 n. Chr.) scheint er schon einmal weiter gewesen zu sein.
Damals hielt dieser seinem Sohn das aus der neu eingeführten Latrinensteuer eingenommene Geld unter die Nase und sprach dazu die seither geflügelten Worte: „Pecunia non olet“ (Geld stinkt nicht).
Haftete der ökologischen Recycling-Idee der Makel an, daß um der Kreisläufe willen energetisch und finanziell mit Verlust gewirtschaftet werden sollte, so „rechnet“ sich die Müllentsorgung
endlich wieder. Sie ist nicht der lange Schatten des Wachstums, sondern selbst ein Wachstumsfaktor. Nun ist es keine schmerzhafte Selbsterkenntnis mehr, sondern frohe Botschaft, daß die
Industriegesellschaft ohne Müll gar nicht denkbar ist. Die Welt der Wirtschaft darf wieder an sich selbst als ein abgrundloses Kontinuum glauben, in dem es immer weiter geht. Anders als in
Zeiten, da die Erde als Scheibe gedacht wurde, muß sie keinen Absturz fürchten. Während es unter der Erde vom Biozyklus abgekoppelte Endlager geben soll, träumt man auf der Oberfläche der
Erdkugel vom endlosen Kreislauf der Geschäftsfähigkeit der Welt. Sie mag einen Untergrund haben, aber alles, was auf ihr begegnet (z.B. mittlerweile Straßenbelag aus Müllverbrennungsrückständen),
nimmt Teil am endlosen ökonomischen Verwertungsprozeß. Der Lauf der Dinge findet als triumphale Rückkehr des Mülls statt.
Der Müll kehrt zurück und wird empfangen wie der verlorene Sohn. Hatte im 20. Jahrhundert die Camorra angeblich gigantische Sondermüllberge aus ganz Europa in Süditalien verschwinden lassen, so
rollten im Januar 2008 tagelang Züge mit je 1500 Tonnen Haushaltsmüll von Neapel (in dessen Nähe ein Vulkankrater 300 Meter tief mit Müll verfüllt sein soll – und damit dicht ist) nach Norden zu
Verbrennungsanlagen in Leipzig und Bremerhaven. Insgesamt waren es 160.000 t, wobei jede Tonne des lukrativen Wirtschaftsguts 100 Euro in den Kassen der privaten Entsorgungsunternehmen klingeln
ließ. Als „Zeichen zunehmender europäischer Integration“ (Umweltbundesamt) wurden 2008 insgesamt mehr als 20 Millionen Tonnen Müll nach Deutschland importiert, sei es zur Deponierung, Verbrennung
oder Verwertung. Dem stehen Müllexporte aus Deutschland mit einem Handelsvolumen von ebenfalls mehr als 20 Mio t gegenüber. Es scheint ähnlich wie mit den Arbeitskräften zu sein: Den Müll, den
wir brauchen, haben wir nicht selbst im Land und müssen ihn daher importieren. Den Müll, den wir haben, brauchen wir zu einem großen Teil gar nicht und können ihn daher exportieren.
Es gibt nicht nur ökonomische, sondern auch ökologische Argumente für den Müllimport: nämlich den hohen technischen Standard der deutschen Entsorgungseinrichtungen, v.a. der
Müllverbrennungsanlagen. In ihnen wird der Müll, dem kein Makel mehr anhaftet, zum „energetischen Recycling“ verwendet. Wir wohnen der Realisierung der Recycling-Idee auf allerhöchstem
technischem (und ökonomischem) Niveau bei. Um den „Brennstoffkreislauf“ ökonomisch zu schließen, gibt es nicht einmal Beschränkungen (die sog. „Emissionsrechte“) für den CO2-Ausstoß. Das
Argument: Da der Müll das Kohlendioxid sowieso freisetzen würde, ist es egal, ob das bei der Verbrennung oder anders geschieht.
Das Modell ist so erfolgreich, daß die 2008 in Deutschland vorhandenen 71 MVAs auf mindestens 100 aufgestockt werden sollen. Auch wenn Müll heute längst nicht mehr nur das Vernutzte ist, sondern
wesentlich auch das aus Prestige- oder Steuergründen zu Verschrottende (fast neue Autos, Computer, Geräte aller Art), so wird Deutschland alleine die Müllnachfrage seiner MVAs auch in Zukunft
nicht bedienen können. Heute schon brauchen die deutschen MVAs zwei Millionen Tonnen mehr Müll, als in Deutschland anfallen. Für das Jahr 2020 rechnet man mit einer Überkapazität von acht
Millionen Tonnen. Augenzwinkernd läßt sich daher schon wieder von einer neuen Sorge sprechen: „In Deutschland wird der Müll knapp!“ Nach dem Öko-Pessimismus der 1980er Jahre klingt das wie ein
großes Aufatmen.
Jetzt macht es sich bezahlt, daß der Müll ein Global Player ist. In China ist eine Frau, die aus amerikanischen Abfällen chinesische Verpackungen gemacht hat, zur Multimilliardärin geworden. Auf
der ganzen Welt beginnt man die Weisheit des großen chinesischen Reformers Deng Xiaoping zu begreifen: daß es egal ist, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, solange sie Mäuse fängt. Bald schon
wird Deutschland als Müllmagnet nicht mehr nur auf Italien und die Niederlande wirken, sondern auch auf China und Indien; wegen der weltweit höchsten Entsorgungsstandards. Mit den Überkapazitäten
der MVAs aber wird ein neues Modell Deutschland („Der Müllmeister“) exportfähig und es wird in naher Zukunft Konkurrenz geben. Politiker, die im Gefolge von Wirtschaftsdelegationen die einstmals
Dritte Welt bereisen dürfen, werden dann in der Bettelrhetorik wetteifern, um von dort mit Lieferverträgen für Müllimporte heimzukehren. Während die einen noch als billige Methode, Sondermüll zu
entsorgen, alte Computer als „Entwicklungshilfe“ in die Dritte Welt schicken – wo sie dann unsachgemäß und ohne die nötigen technischen Entsorgungsmöglichkeiten zerlegt und verwertet werden –,
setzt parallel eine gegenläufige Bewegung ein, in der die Industrieländer um den Müll der Bevölkerungs- und daher Marktgiganten buhlen.
Schrott-Kunst
Hat die Wirtschaft den ungebetenen Müll, der nicht verschwinden wollte, wie mit Zauberkräften in ein umworbenes Gut verwandelt, so übt sich die Kunst schon seit langem in der Magie, den
Verschwinden-sollenden in unerwarteten Erscheinungen auftauchen zu lassen.
Von Dada und Kurt Schwitters über Junk Art und Wolf Vostell, die Mutoid Waste Company bis zu Tina Hauser, Biruta Kerve und Chris Jordan haben Verschrobene und Künstler sich immer wieder und
allerorten des Abfalls in ihrem Gesichtsfeld angenommen. Wollten wir der künstlerischen Müllbehandlung gerecht werden, müßten wir eine eigene Geschichte der Müll-Kunst schreiben. Vereinfacht
ließe sich sagen: Ob Künstler Materialcollagen aus Weggeworfenem schufen, gepreßte Autos stapelten, gigantische Skulpturen und Fahrzeuge aus Schrott bastelten oder Treibgut sammeln und
arrangieren – die unüberschaubare und verblüffende Formenvielfalt des Abfalls nähert sich durch die Kunst immer wieder der Erstaunlichkeit der Natur. Monströses und übersehene Details fügen sich
zu neuen Gestalten zusammen, das alltäglich Übersehene kehrt überraschend wieder. Die Botschaft, wenn man so will, ist: Nichts ist jemals beendet.
Kann Kunst das Müllproblem lösen? Sagen wir: Sie löst es wie einen Tropfen im Meer der Dinge auf. Die Kunst gibt dem Entgrenzungsdrang des Mülls einen Ort, an dem er nicht verschwinden muß. Sie
ermöglicht ihm neue Stoffverbindungen und Sinnverknüpfungen. Sie läßt ihn in andere Sphären und dadurch ins gesellschaftliche Bewußtsein eindringen. Als Gegenrhythmus zum Kreislauf von Skandal
und Verdrängung bleibt Müllkunst immer unzeitgemäß. Als Sphäre des Spiels, in der es keine Bedrohung durch gefährliche Stoffe, sondern nur durch gefährliche Ansichten gibt, bleibt sie immer
hinter ihrer singvogelgleichen Harmlosigkeit verschanzt. So kann sie der Gesellschaft als goldig piepsender Spötter den Spiegel der Phantasie vorhalten, in dem die Frage auftaucht, inwieweit der
Mensch nicht vielleicht doch als Schaffender (und nicht als Produzierender) existiert. So kann sie Müll, der unter dem Zugriff der (Entsorgungs-)Technik eigentlich verschwinden sollte, in
Ritualen der Sichtbarmachung verwenden. Sie läßt ihn los, läßt ihn frei und entfesselt ihn. Damit läßt sie auch etwas von unserer Besessenheit von den Dingen frei. Durch Rituale der
Sichtbarmachung wird vage eine Botschaft sichtbar, die den Dingen auf ihrer Rückseite eingeschrieben ist: Wenn der Mensch die Dinge nicht sein lassen kann, lassen sie ihn auch nicht sein.
Mitunter klingen in diesen Ritualen der Sichtbarmachung vielleicht sogar wie Obertöne Heilungs-, Austreibungs-, Versöhnungs- oder Verheiratungsrituale an.
Die fatale Liaison
Der Mensch ist nicht ohne Müll und der Müll nicht ohne Mensch denkbar. Daß der Mensch mal versucht, den Müll mit allen Mitteln loszuwerden, und ihn dann wieder bei seiner Heimkehr innig umarmt,
läßt an eine fatale Liaison denken. In solch schicksalhaften Beziehungen finden immer auch Selbstbegegnungen statt, aber ohne Selbsterkenntnis. Solange diese ausbleibt, wird es keine Auflösung
des fatalen Knotens geben.
Schauen wir uns an, wie sich uns der Müll gezeigt hat: als treuer Gefährte, als überlebender Zeuge und als Spur des Menschen, als das für (und durch) ihn Unbrauchbare und Unreine, als sein
Double, sein Schatten und sein Alter Ego, als Ungeheuer und als Feind, als Fünfte Kolonne und als hartnäckiger Global Player, als mit Allgegenwart drohender Allesdurchdringer und als
Schattengestalt der heiligen Kuh des Menschen, als dessen Stellvertreter, Platzhalter, Avatar oder gar seine ihn eigentlich spielende Person (sein User), als Schreckgespenst, Wirtschaftsgut und
als verlorener Sohn. Schließlich fand die Reihe seiner Verwandlungen ein Echo in seiner Einkleidung als Singvogel und Spötter.
All diese Gestalten müssen als verrätselte Spiegelbilder des Menschen gelesen werden. Sie verbergen und enthüllen wechselweise das Welt- und Selbstverhältnis des Menschen. Zwei Aspekte, die durch
sie hindurch scheinen, weisen in die Richtung der nötigen Korrektur dieses Verhältnisses:
1. Müll überdauert, auch den Menschen in seiner physischen Existenz. Als das, was seine physische Existenz überdauern sollte, hatte der Mensch schon früh seine Seele gedacht. Diese verlangt von
ihm, mit sich ins Reine zu kommen. Das wiederum, so lehrt der Müll, läßt sich nicht durch den Versuch der Ausmerzung des Unreinen bewerkstelligen; nicht dadurch, daß der Mensch sich reinigt,
indem er die Erde verunreinigt und sein Geschäft auf Kosten der Zukunft macht – die seine Nachwelt ist. Der Mensch muß lernen, mit seinem Müll zu leben.
2. Müll wandelt sich, und das im doppelten Sinne: als Materie und als Bild. Während der Mensch durch immer neue Bilder sein Verhältnis zu seinem Müll zu korrigieren versucht, macht ihn der Wandel
in dessen Materie zum Gefangenen der Vergangenheit. Um die Macht der Müll-Materie zu brechen, mobilisiert der Mensch die Technik. Sie aber unterliegt dem Verlagerungsgesetz und läßt die Macht des
Mülls sich in stets neuem Gewand entfalten. Lernen, dem Müll keine Macht zu geben, hieße, an den Dingen vor ihrer Müllwerdung anzusetzen, d.h. bevor sie dem Verlagerungsgesetz unterstehen.
Was nötig wäre, ist eine mentale Wende. Hat die Kunst den Müll in phantastischen Gestalten entfesselt, so müßte der Mensch ihn noch in einem zweiten, anderen Sinne los lassen. Er müßte von seiner
Anhaftung an die Dinge ablassen, bevor sie zu Müll werden. Befreite sich der Mensch von seiner Besessenheit von den Dingen, so ließe auch der Müll von ihm ab und wüchse nicht mehr über ihn
hinaus. Im 21. Jahrhundert steht der Mensch vor einer über-menschlichen Herausforderung: die Dinge sein zu lassen.
Die Verkennung und Leugnung der mentalen Dimension des Mülls hat neben dem industriellen Interesse selbst eine mentale Grundlage: die Erpressung zur Alternative zwischen Optimismus und
Pessimismus. Der Mensch, der die Geschichte der Dinge, so wie sie zu Müll werden, als seine eigene begreift, verlangt einen guten Ausgang, eine gütliche Lösung; sei es durch eine Politik der
kleinen Schritte, durch die nach und nach alles anders wird, oder durch die Eine bessere Einsicht, die alles von oben korrigieren könnte (von Kyoto oder Kopenhagen aus). Beiden Strategien liegt
derselbe Glaube zugrunde: „Wachstum ist das Gute.“ Beide Fraktionen, sofern sie sich unter dem Vorzeichen des Wachstums formieren, hängen der Doktrin von der technischen Lösbarkeit aller Probleme
an. Daß es eine technische Lösung für alles gibt, veranschlagt der Mensch als Teil seiner Glücksrechte. Daß es dafür keine Garantie im Kosmos geben soll, brandmarkt er als Pessimismus.
Die Erinnerung an die politischen Utopien des 20. Jahrhunderts und die Gewaltexzesse, die ihre Realisierungsversuche zur Folge hatten, läßt uns heute einem Guten, zu dem wir erpreßt werden
sollen, skeptisch gegenüberstehen. Dazu, was das Gute sei, schweigt der Müll – der seiner technischen Entsorgung letztlich so unzugänglich bleibt wie ein Koan seiner rationalen Auflösung.