Müll-Phantasie und Recycling in der Dritten Welt (Buchrezension)
zu: Jürgen Grothues, Aladins Neue Lampe. Recycling in der Dritten Welt.
Trickster-Verlag, 1988, 112 Seiten, 28 Mark
[zuerst veröffentlicht in der taz vom 3. 12. 1988]
Es ist nicht erst der Traum der industriellen Gesellschaft, daß Altes neu werde. Aber es ist ihr Trauma, daß das nie ganz gelingen will; daß im Gegenteil der Müllberg wächst und wächst. Die Idee des Recycling, die dagegen ersonnen wurde, verwittert dabei zur Hoffnung auf Halde.
Woanders dagegen, nämlich in der Dritten Welt, sind unter dem Zwang zu einer Billig-Ökonomie Recyclingverfahren entstanden, die durch ihren Erfindungsreichtum und ihre handwerkliche Kunstfertigkeit verblüffen. Der Ethnologe Jürgen Grothues hat an drei Orten in Pakistan und Marokko Feldforschung betrieben. Er hat nicht nach unberührten Stammes- oder Dorfstrukturen gefahndet, sondern sich auf Bazaren, unter den Müll-Sammlern und Müll-Handwerkern und in den Quartieren von Müll-Arbeitern umgesehen. In knappen, informativen Texten beschreibt er ihre Lebenssituation, ihre Klein- und Kleinstbetriebe und die sich bereits tradierenden Produktionsverfahren in ihrem „Dialog“ mit dem Material. Eine Fülle schwarz-weißer und farbiger Fotos stellt ein Panoptikum phantastischer Gegenstände zusammen, von afrikanischem Kinderspielzeug (von den Kindern selbst hergestellt) bis zu alltäglichen Haushaltsgegenständen aus umfunktionierten, geschnittenen, gefalzten und mit Scharnieren verbundenen Konservendosen.
Nichts, was nicht noch einmal in eine neue Seinsform schlüpfen könnte. Wassersäcke sind aus zerlegten Autoreifen entstanden und eine Moschee aus Teilen eines Schiffswracks. Seinen Titel verdankt das Buch einem Öllampenmodell aus Sri Lanka. „Drei wichtige Stadien der künstlichen Lichterzeugung sind auf geradezu geniale Art miteinander verbunden. Eine ausgediente elektrische Glühbirne, Symbol für den technischen Erfindungsgeist, dient als Ölbehälter für eine Lampe, eine der frühesten Formen der Lichterzeugung. Der Zwischenschritt in der technischen Entwicklung, die Petroleumlampe, ist für die gesamte Konstruktion formgebendes Prinzip. Thomas A. Edison rückwärts wäre ein passender Name für diese Erfindung. Erstaunlich, daß diese einzigartig anmutende Lampenidee auch in Tanzania und Ghana realisiert wurde.“
Jürgen Grotheus hat das Müll-Material nicht nur eingesammelt, sondern es auch übersichtlich strukturiert und auf seine soziale Relevanz hin befragt. Nicht die „Umweltperspektive“ des Recycling interessiert ihn, sondern seine sozio-ökonomischen Entstehungsbedingungen im Spannungsfeld zwischen „formeller“ und „informeller Wirtschaft“ in der Dritten Welt. Sein Augenmerk richtet er dabei nicht auf anzuprangernde Mißstände, sondern auf die aus Überlebensstrategien entstandenen positiven Ansätze zu neuen Handwerksberufen. Endlich einmal ein Buch, das nicht den neo-kolonialistischen Blick des Mitleids auf die „Rückständigen“ wirft, sondern das „Beispiele für die Kreativität und das Selbsthilfepotential der Bevölkerung in den Entwicklungsländern“ versammelt.
Vom Blick auf die anderen lernen, wie man selbst erfinderisch wird, könnte das Motto dieses Buches lauten. Wie aktuell das Thema auch in Europa ist, reißt Grothues am Ende an, wenn er den Kreis von der europäischen Nachkriegs-Wegwerfgesellschaft zur jüngsten Gegenwart einer „neuen Armut“ schließt. Zu den Arbeitslosen in Liverpool, Manchester und Birmingham, die, herausgeworfen aus der Sphäre der formellen Wirtschaft, auf den städtischen Müllhalden nach Verwertbarem suchen. „Aasgeier“ nennen sie sich bereits selber. Nicht nur in England, ließe sich hinzufügen.