Mit etwas Phantasie sehen wir das, was uns etwas nicht sehen lässt: einen Schleier. Er verhüllt und deutet an, zeigt und verbirgt. Wir sehen Nacktheit und Hülle, der Blick springt vom einen auf das andere um, umspringt beides. So wird Notdürftig verhüllt zur Metapher seiner Bildhaftigkeit. Jedes Bild birgt ein Unsichtbares in sich, aus dem es wird und von dem es zehrt.
Doch bevor dieser Schleier sichtbar wird, gilt es einen zweiten Schleier zu lüften. Er verhüllt das Bild durch die Frage nach seiner Bedeutung oder der zu Grunde liegenden Sache. Erst wenn sie verstummt, kann das Bild selbst hervortreten.
Steinerne Flammen, erstarrte Ohren, ein fehlender Kopf, ein geschulterter Esel, nach anderer Lesart und Sichtweise: ein Elefant mit Reiter. Weil im Universum der Bilder alles mit allem zusammenhängt, lassen sich Assoziationen auch grundlos verschränken.
Es fällt. Das Licht? Es zerfließt, dann sammelt es sich irgendwo, wie alles, was sich von hoch droben ergießt, in einem tiefen, dunklen Tal, oder auf dem Plateau eines schwindlig steilen Felsens, von wo aus alles Gesammelte wieder abfließt. Der Fluss erhält die Verbindung selbst in der Unterbrechung. So strömt und strebt es durch alle Form und jedes Hindernis.
Jeder Fluss führt, trägt und bringt etwas mit sich. Erinnerung ist die Beute des Lebens. Lagert sie sich in Bildern an, entstehen Orte der Wiederkehr.
Stein und Gemäuer sind miteinander verbunden. Doch nur einer, der in einer winzigen Blase geologischer Zeiträume entsteht und vergeht, kann sie ineinander überführen: der Mensch. Das Werk ist seine Spur.
Nirgends steht die Zeit still, außer in der Illusion des Bildes, die verbirgt, dass Zeit zum Unsichtbaren des Bildes gehört. Im Lauf der Zeit wurde das Gestein gestaucht, gefaltet und geschichtet, rissen Spalten auf, brachen Hänge ab, wurden Schluchten ausgehöhlt und Verwerfungslinien gezogen. Weiter nagt sie und zersetzt, poliert sie und feilt, glättet und schärft sie.
Was bleibt dem, der diese Zeit nicht erleben kann? Er wird zum Interpreten ihrer Bilder. Er arbeitet und deutet um, er ver- und entdeutlicht, er irrt und wirrt, er überführt. Er, selbst im Übergang, verklammert das von den Waffen Faunas und Floras durchschnittene und durchstochene Gestein mit geschmolzenem und gehärtetem Metall. Um künstliche Gelenke der Erde weht ein technoides Wispern. Der Natur, des Menschen?
Irgendwo liegt immer etwas auf der Lauer. In das, was so nur zu sein scheint, droht das, was nicht zu sein scheint, einzubrechen. In der Zeit hält sich etwas verborgen. Manchmal wird es sichtbar durch Überlagerungen und Interferenzen. Keine Kraft ohne Gegenkraft. Kein Spiel ohne Gegenspieler. Kein Stand ohne Gegenstand. Jedes Gleichgewicht birgt Veränderung in sich, jede Verzerrung und Entstellung will ins Gleichgewicht. Zurück? Nichts steht still. So wird der Betrachter zum Beobachter, der seine Sinne schärft.
Technisch gesprochen wurden Kleckse von Ausgangspunkten in Anhaltspunkte von Linien transformiert. Zwischen ihnen schuf sich der Fluss, in dem sie bleiben und treiben, halten und walten. Zwischen Manko und Zuviel führt alles zusammen, nichts endet unverbunden. Weiße Flächen in geschlossenen Gebilden deuten ein subkutanes Kontinuum an. Echsenhaut und Steppdecken verweben mineralisches Fleisch. Wie aus Lavastrom hat sich eine Maskenmasse geformt. Berg und Fluss sind eins, wo das Gestein in zähem Zeitstrom wird.
Das Werden spielt sich im Gefälle ab. Linien und Massen fließen in einer abschüssigen Topographie. Nur dort ist Gefälle, wo sich Figuren formiert haben. Nur dort sind Figuren, wo Gefälle ist. Immer spielen die Kraft der Bewegung und die Kraft der Ruhe zusammen, immer fließt Kraft zu Gebilden zusammen. Bis zum nächsten Bruch, Sturz, Riss und dem folgenden Aus- und Überfluss scheinen sie zu dauern, dauert der Schein der Gebilde. Kraft ist immer im Wandel, Wandel ist Kraft.
So stellt sich vor Bildern die Frage nach der Betrachtungsgeschwindigkeit. Wurden Berge nicht in Jahrmillionen aufgeworfen, die wir am Computer in Sekundenschnelle simulieren? Das Bild aber dauert, als gäbe es Sein und Ewigkeit, zumindest einen Augenblick lang, für uns.
Nach Plinius’ Bericht war das berühmteste Bild der Antike gleichsam leer. Es enthielt nur drei hauchdünne Linien, die kaum auf dem Malgrund auszumachen waren. Sie waren aus einer Art Duell entstanden. Apelles hatte seinen Malerkollegen und Rivalen Protogenes auf Rhodos besuchen wollen, ihn aber nicht vorgefunden. So hatte er auf dessen Staffelei als eine Art Visitenkarte eine feine Linie hinterlassen. Protogenes, der bei seiner Rückkehr erkannte, wer in seinem Atelier gewesen sein musste, malte eine noch feinere Linie darüber und beauftragte die Haushälterin, sie dem Gast zu zeigen, falls er wiederkäme. Er kam, sah – und malte eine dritte Linie dazu, die nun wirklich so fein war, dass sie keine weitere Hinzufügung mehr erlaubte. Apelles wurde als Sieger in einem Duell anerkannt, das die Duellanten in Abwesenheit als eine Art Teamwork betrieben hatten.
[...]
Zufall oder schicksalhafte Begegnung, das keineswegs leere Zusammenspiel ist in einem legendären, wegweisend heiteren Duell mit Jürgen entstanden. Bei aller technoiden Verschnürung und Bündelung ist es ein fröhliches Bild, was wohl zur Voraussetzung hatte, dass beide bei dem Duell anwesend waren. Es entfaltet sich durch ein Drehen und Entwenden des Sinns – womit sich ein neuer andeutet. Als wollte es uns angesichts dessen, was wir gerade zu mögen beginnen, was sich aber schon wieder auflöst, trösten, dass es keine Destruktion ohne neue Schöpfung gibt. Das Technoide wird quasi-organisch, und umgekehrt. Immer gibt es eine Richtung, immer aber auch deren Umkehrung. Aus Stanzresten tauchen Männchen auf, Männchen verschwinden in Stanzresten. Ebenen scheinen durch, ohne eine Raumillusion zu erzeugen. Vielleicht ist es eine futuristische Landschaft, eine Maschine, ein Knochenfund, oder eine Versteinerung. Aus dem einen könnte urplötzlich das andere geworden sein.
Die Kontur trennt und vermittelt Figur und Raum. Je weiter wir uns mit jeder Verästelung vom Urfalz entfernen, desto tiefer dringen wir ins Reich der Singularitäten ein. Hier enthüllt bzw. verkleidet sich ein Konglomerat als archaische Ingenieursphantasie. Es handelt sich um eine Flussform, deren Richtung sich mit jedem Blick verändern kann; doch man glaubt, eine Art stehendes Wesen ausmachen zu können. Das Blatt wird zu einem virtuellen Steinroboter skulpturiert, dessen Form und Funktion den Schluss von Unbekanntem auf Unbekanntes fordern.
Eierschneiderspuren ähneln Sehnen- und Kabelbündeln, Fächern und gerillten Rohrummantelungen. Der Raum korrespondierender Muster überschneidet die Unterscheidungsebene von Innen und Außen. Darunter fügen sich flache Geflechte zu einem Gebilde zusammen, das einen Innenraum haben müsste; von dem außer den nach außen gefalteten Seiten aber nichts bekannt wird.
Figuren im geometrischen Zwischenreich scheinen sich bei der Entfernung von ihrer Gegenständlichkeit ins Biomorphe zu sehnen. Es ist ein paralleles In-, Über- und Hintereinander, das nur auf seine Pneumatisierung zu warten scheint, um sich dreidimensional zu entfalten. Doch auch dieses Warten ist ein Geschehen voller Wandlungen. Die Sehnsucht nach dem Biomorphen übersteigt sich ins Metamorphe.
Ausgestiegen aus dem Fluss, ausgebrochen aus dem Stein, ist da auf einmal eine altbekannte Figur. Wenn man die Details untersucht, deutet nichts auf sie hin, wie bei der Nahbetrachtung eines malerischen Pinselduktus’, hier aber in klarer Linie. Uns entgegen steht ein vorzeitiger Krieger, in der Balance zwischen Tanz und Trance. Er bewahrt in allen Verwandlungen Haltung, auch in den Stromschnellen des Flusses. Er verkörpert das Vor-Bild des aufrechten Auf- und Untergangs. Auf anderes bezogen, ruht er doch in sich. Er ist eine Figur, die im freien Spiel, nicht im Widerstand geboren wird.
Gegen Ende wird er überall sichtbar, ersteht er immer wieder aus dem Stein der Zeit. Aber er ent-steht nicht erst in dieser Zeit, er ist längst schon da und besteht noch über sie hinaus. Er ist ein Erinnerungszeichen: dass nichts dem Fluss des Entstehens und Vergehens entgeht, immer aber auch etwas aus ihm hervorgeht, herausragt und ihn zu überdauern scheint.
Die Grafiken in Der Bilder Berg und Fluss von Christian
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