Der Bilder Berg und Fluss heißt im Untertitel "Zeichen-Buch". Damit stellt sich eine Frage: Ist ein Zeichen-Buch, ähnlich einem Zeichenblock, ein Buch, in das jemand zeichnet oder gezeichnet hat; das sich also mit dem Zeichnen von einem leeren Buch in ein Buch voller Zeichnungen verwandelt? Oder ist es am Ende ein Buch voller Zeichen, wie das vom Buch der Vorsehung überschriebene Buch der Natur?
Ke Shiqiang hat auf der ersten Seite seines Präsenzbuches, in das er Gedanken zu seinen Bildern notiert, zwei Wörter eingetragen, die als Motto verstanden werden können: "Zeichen zeichnen." Das Zeichnen, schreibt er weiter, sei eine Art Schrift; eine Schrift aber, deren Zeichen nur je ein einziges Mal geschrieben würden.
Auf die Frage, ob die Analogie von Zeichnen und Schrift damit zu tun habe, dass man in China den gleichen Pinsel zum Schreiben und zum Malen benutzt, verweist er auf das griechische Wort graphein, das sowohl zeichnen als auch schreiben bedeutet. "Die Chinesen haben vieles erfunden, aber nicht die gemeinsame Wurzel von Bild und Schrift."
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Wenn man Ke Shiqiang, der 1990 in der Nähe von Guilin in der Provinz Guangxi geboren wurde, auf seine chinesische Herkunft anspricht, führt er, der im Norden Europas aufgewachsen ist, die Macht des Bodens an. "Auch eine Pflanze entsteht nicht nur aus einem Samen. Sie braucht den richtigen Boden und das geeignete Klima, um zu gedeihen. Der Mensch, der sich, anders als eine Pflanze, von Ort zu Ort bewegt, unterliegt diesen Einflüssen sogar noch mehr. Denn er folgt den Kraftlinien, die aus dem Boden der Kultur hervorgegangen sind. Bilder entwachsen immer dem spezifischen Boden einer Kultur, und sie gedeihen nur in einem spezifischen, für sie geeigneten Klima. Oder, um kein biologistisches Missverständnis aufkommen zu lassen: Bilder sind immer mit der Kraft des Bodens kurzgeschlossen. Die Kraft des Bodens, die in meinen Bildern wirkt, ist keltisch-germanisch."
In der Tat sucht man in Ke Shiqiangs Bildern mit ihren dichten Verschlingungen von vegetabilen und animalischen Motiven, skurrilen Fratzen, Masken und Mischwesen, die selbst in seiner geometrisierenden Phase noch durchscheinen, zumindest auf den ersten Blick vergeblich nach einer typisch chinesischen Bildsprache. Erst einem zweiten Blick zeigt sich die Verbindung seines Werks mit der chinesischen Kultur. Auf Chinesisch nennt man Landschaftsbilder shanshui, was "Berge und Wasser" bedeutet. Der Name erinnert daran, dass die Malerei die frühen Opferkulte beerbte, mit denen einst die gewaltigsten der Naturkräfte beschworen wurden. Zugleich schlägt er dem philosophischen Denken eine Brücke zu der metaphysisch oder kosmologisch interpretierten Dualität von Ruhe und Bewegung. Ke Shiqiangs "keltisch-germanische" Bilder können als ein rastloses Durchspielen der dynamischen Beziehung von Berg und Fluss, Stein und Strom, gelesen werden. So konvergieren Herkunft und Boden in seinen Bildern.
Die Formulierung eines wohlwollenden Kritikers, dass Ke Shiqiang sich "in zwei Kulturen zuhause" fühlen dürfe, weist er zurück. "Es geht mir nicht um eine kunstmarktgängige Übereinkunft oder diplomatische Kompromisse, sondern um Fusion. Das lässt sich nicht durch Zuhause-sein regeln. Meine Bildsprache - sofern sie überhaupt als 'meine' gelten kann - ist ent-, aber ge-bunden, d.h. weder an- noch un-gebunden."
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Bleibt im Bild das Verhältnis zum Unsichtbaren erhalten, so tritt das Bild auch zum Rest des Sichtbaren in eine eigenartige Beziehung. Während die als Membran gedachte Bildfläche unsere Welt mit der unsichtbaren Welt nebenan verbindet, grenzt sein Rand das Bild von der Realität draußen, inklusive der Gesellschaft, ab - um auch an sie eine Anschlussstelle zu schaffen.
Im Laufe der Geschichte tauchen immer wieder Schulen, Richtungen und Ismen auf, die die Differenz von Bild und Realität für nicht existent erklären oder hinwegfegen wollen. Sie proklamieren eine Grenzüberschreitung, um die Gesellschaft nach den Regeln der Kunst zu gestalten. Sie leugnen, dass Bilder am Bildrand enden und dass es jenseits davon nach anderen Regeln zuginge.
Auch Ke Shiqiang glaubt nicht, dass Bilder am Bildrand enden. Er aber denkt sie an ihren Rändern "virtuell zusammengefaltet", so dass ihr Raum, obwohl er uns als rechtwinklige Fläche erscheint, in Analogie zu einer Kugeloberfläche gedacht werden muss. Das bedeutet, dass man den immanenten Bildraum als unendliches Kontinuum betrachten kann; und zugleich, dass es keinen kontinuierlichen Übergang zur Welt um sie herum gibt. Das lässt an die Idee des autonomen Kunstwerks denken. Doch im Unterschied zu diesem eignet Ke Shiqiangs Bildern eine archaische Gebundenheit. Sichtbar wird sie im Lauf der Zeit und dem mit ihm einhergehenden Wandel.
Immer gibt es einen Berührungspunkt zwischen Kugel und Boden der Realität. Sei es durch eine Bewegung der Kugel oder durch eine Bewegung der Welt - es ist, als rollten die Bilder wie Kugeln durch die Welt da draußen, mit der sie sich berühren, ohne doch in ihrem Innersten dazu zu gehören. So wandert der Berührungspunkt, während der Rest der Kugel ohne Bodenkontakt bleibt.
Es ist nicht so, als nähmen diese Bilder-Kugeln bei ihrem Rollen durch die Welt deren Abbilder auf, wie es ähnlich der Realismus dachte. Es ist auch nicht so, als prägten sich die rollenden Bilder umgekehrt der Welt ein, die entsprechend der Vorstellung einer grenzüberschreitenden, gesellschaftsverändernden Kunst mehr und mehr ihr eigenes Gesicht verlöre. Es kreisen die Bilder bei diesem Rollen auch nicht einfach als Kunst um ihrer selbst willen in sich.
Es ist vielmehr so, als würde durch das Rollen der Bilderkugeln ein unvorhersehbares Muster im Boden der Realität sichtbar; ein Muster aus Kraftpunkten und -linien, die im Lauf der Zeit von der Realität überschrieben worden waren und nun bei der Betrachtung metamorpher Bilder wieder wie eine Geheimschrift auftauchen.
Es bleibt ein überraschendes Geschehen, denn über weite Strecken rollen die Bilderkugeln spurlos über den Boden der Realität hinweg. Hier und dort aber werden Punkte sichtbar, die von einer Berührung zeugen. Dort hat die stille Wirkmacht metamorpher Bilder mit einer geheimen Macht des Bodens korrespondiert; dort hat sich der Boden der Realität, auf dem der Betrachter steht, der singulären Zeichensprache der Bilder geöffnet; dort ist es, als hätten die Bilder durch eine Korrespondenz von Kräften "gezündet". Waren Bilder durch Druckpunkte beim Kontakt mit der Welt nebenan entstanden, so hinterlassen sie bei ihrem Rollen durch die Realität hier und dort ihrerseits Druckpunkte; nur dass diese nicht wiederum in Form äußerer Bilder zurückbleiben, sondern als Erinnerung an sie. Zumeist verblassen diese Druckpunkte nach kurzer Zeit, um wieder ganz unter der kontinuierlichen Oberfläche des Realitätsbodens zu verschwinden. Hier und dort aber bleibt die Spur der Diskontinuität in ihm erhalten. Dort wurde der Realitätsboden durch ein irritierendes Wiedererkennen durchstochen, das dem Lesen einer unbekannt gewordenen Schrift auf dem Urgrund der Kultur gleicht. So bleibt die Realität wie perforiert mit Erinnerungspunkten an die Welt nebenan zurück.